Zur Behübschung des Körpers ist der Menschheit ja schon immer eine Menge eingefallen. Aber nicht alles, wofür man leiden muss, ist Schönheit. Manche piercen aus Protest gegen die Biederkeit an sich, andere wollen den Schmerz, egal wie - und verstümmeln sich dabei selbst. |
Alex ist ein hübscher Bursche, der in seiner flaumigen Oberlippe, seiner Nase und Augenbraue je einen Stahlring spazieren führt. Im Ohr trägt er eine aus Silber angefertigte Sicherheitsnadel, an der ein kleiner Totenkopf baumelt. Gerüchteweise habe ich von weiteren Piercings gehört, die während eines Familienurlaubs am Metalldetektor des Flughafens zu einer tiefpeinlichen Szene geführt haben.
"Warum tust du das?", frage ich, Kugelschreiber und Notizblock im Anschlag.
Er seufzt. "In einer Welt, in der das Individuum immer weniger gilt und durch globale Konzerne bedroht ist, lassen sich Piercing und Tätowierung, wie übrigens auch die verschiedenen Formen von Diät, am ehesten als Selbstinbesitznahme des eigenen Körpers verstehen. Im Westen wird eine vollgültige soziale Identität nämlich schon seit langem durch die Verfügungsgewalt über den eigenen Körper definiert - alles andere gilt als Sklaverei." Ach so, verstehe. Er hat das natürlich nicht wörtlich so gesagt, aber ich als geschulte Ethno-Sozio-Psychotante weiß, was er meint: "Mein Body gehört mir", ist die Message aller, die gepierct, "tattooed", gezupft oder auch nur haargefärbt herumlaufen. Was er tatsächlich sagte, war übrigens: "Was weiß'n ich? Meine Freunde tun's auch. Is eben geil. Hast a Tschik für mich?" Make up your body Piercing ist aber keineswegs eine Erfindung unserer Tage: Im alten Ägypten war Nabel-Piercing ein Zeichen königlicher Herkunft und nur Adeligen vorbehalten. In einigen Teilen Nordafrikas wird auch heute noch im Rahmen von Initiationsriten jungen Männern ein Ring in die Haut des Hodensacks eingesetzt. In vielen Ursprungsländern werden allerdings die verschiedenen traditionellen Arten von Körperschmuck, die heute von westlichen Jugendlichen bevorzugt werden, ironischerweise durch den Einfluss des Westens weitgehend unterdrückt. Eher praktische Überlegungen ließen Prinz Albert, den Gemahl von Königin Victoria, in die Piercing-Geschichte eingehen: Er soll, so ist es aus einer Ärztezeitung zu erfahren, den nach ihm benannten Prinz-Albert-Ring getragen und auch seinen Soldaten empfohlen haben. Seine Begründung: Das beste Stück dürfe in den damals sehr engen Uniformhosen optisch nicht auftragen. Wie viele seiner Untergebenen Prinz Alberts Beispiel gefolgt sind, ist nicht bekannt. Während Fashion-Victims die Qualen für das eine oder andere wo auch immer platzierte Ringlein halt in Kauf nehmen, um schön oder dabei zu sein, sieht man den geradezu Perforierten nicht an, ob sie damit schöner werden wollen oder auf den Schmerz selbst abzielen. "Der Schmerz ist das einzig Reale", wusste schon Franz Kafka. Im Schmerz gibt es kein Morgen oder Gestern, kein Hier und Dort. Er ist plötzlich, er ist unmittelbar. Unter den Schmerz-Junkies ist es ein Sport geworden, sich ohne örtliche Betäubung stechen oder gar brennen zu lassen: Beim aus den USA kommenden Branding werden glühende Gegenstände auf die Haut gepresst. So wie im Western den Rinderhintern eingebrannt wurde, wo sie hingehören, wird die Haut mit glühenden Gegenständen gebrandmarkt und die entstehenden Narben oder Muster bewundert. Pate für das postmoderne Branding stand übrigens Marilyn Manson, der sich wiederum auf Nietzsche selbst beruft... Das völlig unlustige Phänomen der Selbstverletzungen hat sich in letzter Zeit verbreitet. Die Ärzte sind ratlos, Betroffene sagen, es übertünche den seelischen Schmerz. "Wenn ich mich innerlich tot und leer fühle, hat das Blut einer Stich- oder Schnittwunde etwas irrsinnig Belebendes. Der Schmerz sagt mir, dass ich überhaupt noch was spüren kann." Danach aber leiden sie ähnlich wie Esssüchtige nach einem Fressanfall. Für Selbstverletzungssüchtige gibt es eine sehr gute Website unter www.versteckte-scham.get-2.com. (Bei der Eingabe wird man zwar auf eine andere Seite umgeleitet, kommt dann aber mit der Suchmaschinen-Eingabe "versteckte scham" zur Homepage.) Metal NOT Incorporated Seit die Sicherheitsnadeln der Punks von Vivienne Westwood zur Haute Couture erhoben wurden, ist die Grenze vom Hardcore retour zur Fashion wieder überschritten. Als echte Alternative für nur vorübergehend Schönheitswillige wird nun das so genannte Funpiercing angeboten. Dabei wird der Ring mit einem dünnen, chirurgischen Faden an der gewünschten Körperstelle eingehängt. Der Faden von nur 0,5 mm löst sich nach zwei bis drei Monaten von selbst auf. Es kommt kaum mehr zu allergischen Reaktionen oder Entzündungen, weil kein Metall auf unverhorntes Gewebe trifft. Statt der traditionellen Tätowierung hat sich Henna-Tattooing schon ziemlich durchgesetzt, obwohl auch das allergische Reaktionen hervorrufen kann. Am lightesten sind immer noch die in jeder Drogerie erhältlichen Abziehbildchen, die sich wieder herunterwaschen lassen. Überhaupt: Wenn diesen Herbst etwas ins Extrem getrieben wird, dann der neue Softie! War in punkto Lifestyle letzten Winter der Warmduschertyp noch etwas angefeindet, hat er sich diesen Sommer zum eigenwillig-respektablen Schattenparker gemausert. Was Mode und Körperschmuck betrifft, ist der Piercing-Trend für echte SetterInnen sowieso schon zum Massenphänomen verkommen. Sie sind einen Schritt weiter und bestechen jetzt durch das Neu-Auftragen des eigenen Baby-Looks. Ringe sind dabei prinzipiell o.k., diesen Herbst ultimativ aber nur am Fußgelenk - als neuer Geheimtipp: Ringelsöckchen. |